Haben oder sein?
Das Konzept des Buen Vivir (das Gute Leben) beruft sich auf Wertvorstellungen und die Philosophie der indigenen Kulturen der Andenländer. Es versteht sich als alternatives Entwicklungskonzept, welches die westlich geprägten Vorstellungen von Fortschritt und Wohlstand sowie die vorherrschenden Entwicklungsmodelle in Frage stellt. Die indigenen Weltanschauungen Südamerikas sind im Gegensatz zu diesen nicht linear orientiert und widersprechen somit der Ausrichtung der menschlichen Entwicklung auf andauerndes Wachstum. Die Ansammlung materieller Güter ist nicht der entscheidende Faktor für das Buen Vivir. Zentrale Werte sind stattdessen Wissen, soziale und kulturelle Anerkennung, Ethik und Spiritualität. Das Ziel ist nicht „mehr haben“, sondern ein Gleichgewichtszustand im Guten Leben.
Die grundsätzlichen Werte des Buen Vivir sind Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Es strebt nach einer Gesellschaft ohne Elend auf der einen und ohne Überfluss auf der anderen Seite. Zur Erreichung dieses sozialen Gleichgewichts bedarf es einer Umverteilung: Alle sollten mit dem mindestens Notwendigen versorgt sein und ein Leben in Würde führen können. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse Aller steht im Vordergrund. Es geht also weniger um die individuelle Lebensqualität Einzelner, sondern vielmehr um den sozialen Zusammenhang in der Gemeinschaft.
Die Rechte der Natur
Die linksorientierten Regierungen von Ecuador und Bolivien haben den Begriff des Buen Vivir in ihren Verfassungen verankert. In Ecuador ist es sogar als zentrales Verfassungsziel aufgeführt. Es beinhaltet z.B. das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Wasser. Darüber hinaus definieren sie die Natur als ein Subjekt, welches Rechte hat. Als konkrete Politikmaßnahme in diesem Zusammenhang ist die Yasuní-Initiative der ecuadorianischen Regierung zu sehen: Ecuadors ehemaliger Minister für Energie und Bergbau, Alberto Acosta, hat 2007 der internationalen Gemeinschaft angeboten, die Ölfelder in einem Regenwaldgebiet unberührt zu lassen, wenn Ecuador dafür Ausgleichszahlungen erhält. Leider ist bis heute kein Land bereit, entscheidende Summen als Ausgleich zu zahlen.
Die Ideen des Buen Vivir wurden auch von vielen westlichen Initiativen aufgegriffen, die sich kritisch mit der überkommenen Wachstumsdoktrin auseinandersetzen und nach Alternativen suchen. Durch die Diskussionen über das Buen Vivir in unterschiedlichsten Kontexten sind die Auffassungen davon und die daraus entstandenen Konzepte sehr vielfältig.
Quellen:
Fatheuer, Thomas: „Buen Vivir – Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur“, Heinrich Böll Stiftung – Schriften zur Ökologie Band 17, 2011.
Acosta, Alberto, übersetzt von Birgit Hollenbach: „Buen Vivir auf dem Weg in die Post-Entwicklung – Ein globales Konzept?“, in: Rätz, W., von Egan-Krieger, T. u.a. (Hrsg.): Ausgewachsen! – Ökologische Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben.“ VSA-Verlag, Hamburg, 2011.
Bildquelle „Hängematte“ von Michael Pollak (flickr)