Vom Versuch, sprechfähig zu werden
Ein Gespräch mit Ria und Finn aus dem Bundesvorstand zeigt, warum Gaza auch im BUNDjugend-Kontext nicht ausgeblendet werden darf und wie schwierig die Suche nach den richtigen Worten ist.
TW: Tod, Krieg, Verletzung, Vertreibung
In Gaza tobt die Gewalt. Was mit Selbstverteidigung begann, wurde zu einem maßlosen Krieg, der hunderttrausende Opfer fordert. Uns als Jugendorganisation beschäftigt besonders, wie schwer Kinder und Jugendliche betroffen sind.1 In Deutschland ist das Hinsehen und das Sprechen über Gaza aber nicht so einfach. Ein unsicheres Gefühl macht sich breit – die Angst etwas Falsches zu sagen oder missverstanden zu werden, ist groß. Die Wunden, die Deutschland im Nationalsozialismus mit Holocaust, Verfolgung und Krieg geschlagen hat, ziehen sich dabei ebenso tief durch unsere Geschichte wie die Folgen fehlender Aufarbeitung. Rassismus, Diskriminierung, Gewalt und Vorurteile prägen heute an vielen Stellen unsere Gesellschaft. Wer das Unrecht in Gaza ansprechen will, muss sich durch Gräben des Misstrauens navigieren.
Ein Gespräch mit Ria und Finn aus dem Bundesvorstand zeigt, warum Gaza auch im BUNDjugend-Kontext nicht ausgeblendet werden darf und wie schwierig die Suche nach den richtigen Worten ist.
„Ich bin informationsüberladen, dadurch kann ich grade gar nicht so emotional auf das Thema blicken – und das fühlt sich makaber an“, beschreibt Finn die innere Zerrissenheit. Er arbeitet gerade im Erwerbsarbeitskontext zu Gaza und der Krieg ist ein Dauerthema, das ihm ständig im Kopf ist.
Ria ergänzt: „Eigentlich geht es mir gerade gut – ich freue mich auf meinen Tag. Und trotzdem ist da dieses mulmige Gefühl, weil ich das Gefühl habe, dass nie für alle richtig ist, was man sagt. Wir im BuVo sind sehr harmoniebedürftig und zu dem Thema sind so viele Positionen verhärtet.“ Besonders im eigenen Verband, dessen Kern Umwelt- und Klimaschutz ist, wird ihnen die Frage gestellt: Warum beschäftigt ihr euch mit diesem Krieg?
Für beide und auch für den Rest des Bundesvorstands ist ganz klar: Das Leid in Gaza – insbesondere das von Kindern und Jugendlichen – betrifft unsere Arbeit (auch als Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe) unmittelbar. „Nicht alles, was wir tun, muss in direktem Bezug zu Umwelt- und Naturschutz stehen. Es geht auch darum, wie wir als Menschen miteinander umgehen und leben“, sagt Finn. Ria hat im Verband bereits Debatten geführt und macht deutlich: „Man kann nicht einfach wegsehen, wenn unfassbares Leid geschieht. Wir müssen benennen, dass dort ein Unrecht geschieht, das verhindert werden muss.“ Dabei geht es nicht um die Positionierung für eine von zwei konstruierten Seiten, sondern um eine moralische Orientierung, die sich an Menschenrechten und Mitgefühl ausrichtet. „Es gab Proteste, die die Augen verschlossen haben, vor dem Schicksal einiger – man kann sich nicht für das Leid mancher Menschen einsetzen und das der anderen ignorieren.“
Gleichzeitig ist die Schwierigkeit groß, in einem Verband mit 82.000 Mitgliedern eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. „Wir haben und wollen im Verband Pluralität, und die kann natürlich nicht pauschal abgebildet werden – auch wenn ein Thema so wichtig ist.“ Darum hat sich der Bundesvorstand entschieden, einen internen Orientierungsleitfaden zu entwickeln, um eine Grundlage anzubieten, überhaupt ins Gespräch kommen zu können. „Das Papier basiert auf Freiwilligkeit. Niemand muss sich anschließen, aber wir wollten einen ersten Aufschlag machen“, erklärt Ria. Den Beschluss von Positionen überlasse man der Bundesjugendversammlung, dem wichtigsten Gremium im Verband. Und auch der Bundesjugendrat und in anderen Gremien organisierte Ehrenamtliche müssten die Möglichkeit haben, diese mitzugestalten – zum Beispiel im Rahmen der neuen bundesweiten Arbeitsgruppe zu Krieg und Frieden. „Wir brauchen aber endlich eine Leitlinie, die uns verbindet und sprechfähig macht. Sonst treten wir auf der Stelle und kommen nicht weiter.“
Beide wünschen sich, dass dieser Prozess Menschen und Verbände ermutigt, das Thema aufzugreifen. Im Deutschen Bundesjugendring, zu dem die BUNDjugend gehört, hat diese jüngst angestoßen, sich als Verband deutlicher zu positionieren. Das ist ein erster Schritt in diese Richtung. Aber auch hier sind Menschen vorsichtig. Dazu, warum das so sei und welche Konsequenzen befürchtet werden, sprechen die beiden das Thema Entzug von Gemeinnützigkeit und Förderungen an. Finn sagt: „Wir sehen, dass Organisationen angegriffen werden, wenn sie sich mit Palästina solidarisieren.2 Die Merz-Regierung fährt die Ellbogen aus gegen Bewegungen, die nicht ihrer Meinung sind. Da ist schon eine Gefahr.” „Aber unsere Aufgabe ist es, Diskussionen weiterzuführen und Perspektiven zu eröffnen“, so Ria. „Wir stehen nicht auf einer Konfliktseite, sondern auf der Seite des Völkerrechts. Und das wird gerade gebrochen.“
Die BUNDjugend wird sich weiter mit Israel-Palästina auseinandersetzen, sich weiterbilden und Ambivalenzen aushalten lernen. „Wir wollen nicht wegschauen und uns nicht einschüchtern lassen. Am Ende geht es darum, Menschen zu schützen“, betont Finn.
Nachhaltiger Frieden und Klimagerechtigkeit hängen eng zusammen. Klimaschutz, Klimaanpassung und Konfliktbearbeitung müssen genauso wie Frieden, Umwelt und Entwicklung zusammengedacht werden, um sozial-ökologische Transformationen zu gestalten. Darum und um der Lebensrealität junger Menschen gerecht zu werden, die mit Krieg und Frieden aufwachsen, werden wir uns weiter mit Themen wie diesen auseinandersetzen und diese bearbeiten.
1 Von der jüngsten Bodenoffensive in Gaza Stadt Mitte September sind laut UNICEF 450.000 Kinder direkt bedroht – durch Angriffe, aber auch durch den folgenden Hunger, Wassermangel, zerstörte Gesundheitsstrukturen. Seit Kriegsbeginn wurden mindestens 20.000 Kinder getötet, 21.000 wurden für den Rest ihres Lebens behindert, 132.000 Kinder sind von Hunger betroffen (Save the Children) und über zehntausend Kinder werden vermisst, weitere zehntausende haben ihre Familien verloren und sind auf sich allein gestellt (UNICEF).
2 Einige Beispiele: Im vergangenen Jahr wurden die Berliner Mädchentreffs Phantalisa und Alia geschlossen, weil die Geschäftsführer*innen sich “pro Palästina” positioniert hatten (taz). Der Altonale Kunstherbst in Hamburg sagte 2024 eine Ausstellung mit Zeichnungen von Kindern in Gaza ab, “um keiner Seite oder politischen Initiative die Möglichkeit zu geben, den Kunstherbst politisch zu instrumentalisieren” (Neues Deutschland). Seit Oktober 2023 hat Deutschland mindestens sechs israelischen und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen die Fördermittel gestrichen (Deutsche Welle). Dazu kommen pauschale Kriminalisierungen Palästina-solidarischer Proteste, deren Folgen laut Amnesty von rechtswidrigen Einschränkungen bis zu massiver Polizeigewalt reichen (Amnesty International) sowie zahlreiche weitere Streichungen und Ausschlüsse.